Erste Erste Eindrücke
Dienstag, den 27.7.1999
Ich probiere alle Türen durch. Aber es ist nichts zu machen: Fehlanzeige! In keiner einzigen Toilette des Flughafens von Chennai
gibt es Klopapier. Da bin ich nun also, wovon ich schon so lange geträumt habe: In Indien! Es dauert einige Zeit, bis ich
die Rolle, die ich dank einer spontanen Eingebung in den Tiefen meines Rucksacks verstaut hatte, triumphierend in den Händen halten kann.
Vor dem Flughafengebäude steht eine einzige Rikscha (mit „Rikscha“ ist hier meist die häufig anzutreffende
motorisierte Rikscha gemeint), die nur auf mich gewartet zu haben scheint: Die beiden Männer, die mich zum Bahnhof fahren, sind überaus
freundlich und zeigen mir, was indischer Geschäftsgeist ist. Statt der anfangs geforderten 250 Rupien (ca. 11 Mark) wollen die Fahrer plötzlich
600 Rupien, für jeden 300! Der indische Alltag ist hart, besonders für den Neuankömmling, denn er besteht zunächst aus einer
lästigen und mitunter sehr dreisten Bescheißerei. Nach langer Streiterei zahle ich die 250, obwohl ich schon ahne, dass auch dieser Betrag
viel zu hoch ist (in der Tat: Mit Taxameter hätte die Fahrt etwa 60 Rupien gekostet!).
Am Bahnhof: Müllhaufen türmen sich entlang der Gleise auf, Ratten huschen über den Bahnsteig, ein Leprakranker
schleicht durch die Wartehalle. In Indien ist eben doch einiges anders... Ich kaufe einen „Indrail-Pass“, der mich dazu berechtigt, 30 Tage
lang alle Züge der indischen Eisenbahn zu benutzen und lasse mir gleich einen Liegewagenplatz reservieren.
Ein halbnackter Fakir bietet seine Dienste bei der Hotelsuche an (und kassiert natürlich kräftig Komission).
Das Zimmer ist klein, die Wände nicht mehr ganz weiß, die Bettwäsche schmuddelig und der Ventilator, der
über dem Bett hängt, verstaubt und rostig. Mein Blick schweift durch das kleine vergitterte Fenster in einen engen Schacht: Ein Gewirr von
Kabeln und Rohren und zwei Stockwerke tiefer all das, was andere Gäste durch dieses Fenster entsorgt haben.
In einer Besenkammer am Ende des Ganges befindet sich die Etagendusche: Neben dem Waschbecken ein Wasserhahn in der Wand, darunter ein großer
Eimer und zwei kleine Plastikgefäße, mit denen man sich das Wasser über den Kopf gießen kann.
Indische Dusche im Hotel
Während eines Spaziergangs gelange ich zufällig zum St.-Maries Cemetry, einem britischen Friedhof, um den sich seit der
Unabhängigkeit Indiens wohl niemand mehr gekümmert hat: Heilige Hindu-Kühe grasen zwischen überwucherten und schiefstehenden
Grabsteinen. Etwas später entdecke ich auf den Arbeitsmappen zweier Studentinnen ein Hakenkreuz, das Logo der Universität, und vor dem
Gefängnis werde ich gefragt, ob ich wohl jemanden besuchen wolle. Mitten auf offener Straße treibt eine Diebesbande ihr Unwesen: Doch nein,
es sind Angestellte der Stadtverwaltung, die falschparkende Roller wegräumen, indem sie sie auf die Ladefläche ihres Lieferwagens heben.
Und immer wieder wird man mit der Frage konfrontiert, welcher Kaste man denn angehört: Den Reaktionen zu urteilen, fällt es vielen Indern
schwer, sich eine kastenlose Gesellschaft vorzustellen.
Auf Rückweg mache ich halt bei einer Obsthändlerin, die mir für umgerechnet 50 Pfennig Unmengen von Bananen in eine Tüte packt.
Weiter geht es, vorbei an Menschen, die auf der Straße schlafen oder gerade ihre Notdurft verrichten, vorbei an nackten Kindern, die zwischen
zerbrochenen Betonröhren im Dreck spielen, daneben qualmende Feuer, die ein ärmliches Essen kochen...
Und ich wundere mich über die Fremdheit dieses Landes...
Mittwoch, den 28.7.1999
Das Fort St.-George ist optimal gegen feindliche Angriffe geschützt: Es liegt nämlich so versteckt, dass ich es trotz
ausgiebiger Suche nicht finden kann! Währenddessen begegne ich einem Mann, der mir unbedingt die
wunderschönen Tempel von Chennai zeigen möchte. Doch freundlich ist er nur so lange, bis er anfängt, unverschämt viel Geld zu fordern.
Nur mit viel Mühe und Verhandeln werde ich ihn wieder los. Im Kapaleeshwarartempel, dem größten in dieser Stadt, erklärt Nagu, ein
Student, die wichtigsten Figuren und Zeichen, die der Besucher in hinduistischen Tempeln antrifft. Auch malt er mir einen roten und einen
weißen Punkt auf die Stirn: Symbole für Vater und Mutter. Zusammen schauen wir anschließend die St-Thomas Church an (die Legende
erzählt, dieser Apostel habe hier eine der ersten christlichen Gemeinden der Welt gegründet) und das Government Museum mit vielen
sehenswerten Kunstwerken. Besonders interessant ist eine uralte Buddhafigur im griechisch-indischen Stil, die davon zeugt, dass die
„Globalisierung“ keine Erfindung der Neuzeit ist.
Zum Mittagessen lade ich Nagu in ein Restaurant ein, es gibt „Garlic Chicken“ (Vorsicht: Dieses Gericht enthält mehr
Knoblauch als Fleisch)! Den angenehmen Teil der Tour schließen wir mit einem Spaziergang durch den „Snake Park“ ab. Und der unangenehme
folgt sogleich: Nagu schleppt mich in einen Touristensouvenirladen, in dem mich alle ungläubig und sehr böse anschauen, weil ich nichts kaufen
möchte. Als Ausgleich dafür will der „tourist guide“, als der er sich jetzt bezeichnet, für die Stadtführung kräftig
abkassieren. Freundschaft ade, jetzt kommt das Geschäft! Während ich mittels hartnäckiger Handelei auf Schadensbegrenzung bedacht bin,
schimpft Nagu, wir seien hier doch nicht auf dem Gemüsemarkt! Den Erlebnissen dieses Tages entspringt meine tiefe Abneigung gegenüber
selbsternannten Fremdenführern, so dass ich denke, gut daran getan zu haben, sie in Zukunft weitgehend zu meiden.
Mein Zug scheint Verspätung zu haben, was wohl nicht unüblich in Indien ist. Tatsächlich jedoch kommt der Zug
auf die Minute pünktlich, ich habe nur noch nicht bemerkt, dass zwischen hier und Colombo, wo ich während des Wartens auf den Anschlussflug
meine Uhr umgestellt hatte, nochmals eine halbe Stunde Zeitdifferenz besteht. In Indien ist es ganz und gar unmöglich, sich auf einer Zugfahrt
nicht mit den Mitreisenden über Reiseziel, Familie, Wetter, etc. auszutauschen, weshalb die Eisenbahn das Verkehrsmittel der Wahl ist, um Land
und Leute kennenzulernen. Im Abteil sitzen mir gegenüber ein aufgeschlossener, junger Inder und sein Vater:
Bis spät in die Nacht unterhalten wir uns über Gott und die Welt. Denn auch wenn viele Inder den Touristen (verständlicherweise)
als Goldesel betrachten und dementsprechend behandeln, so muss doch auch betont werden, dass es mindestens ebenso viele liebenswürdige Menschen gibt,
die einfach nur mit den Fremden plaudern wollen, die in misslichen Situationen helfen,
und die (in einer manchmal schon beschämenden Weise) gastfreundlich sind.
Donnerstag, den 29.7.1999
Pünktlich um 4:55 Uhr kommt der Zug in Madurai an, wo mein wichtigstes Ziel der berühmte
Meenakshi-Tempel ist. Das Tempelgelände ist eines der größten in Indien und wird von einer
hohen Mauer mit vier Eingängen umgeben. Über diesen erheben sich vier gewaltige Gopurams (Tortürme), die mit tausenden von bunten
Figuren geschmückt sind. Als ich den Tempel kurz nach Sonnenaufgang betrete, werde ich von der eigentümlichen und unvergesslichen
Atmosphäre verzaubert: Durch Lautsprecher ist ständig der monotone Gesang eines Priesters zu hören und noch haben erst wenige
Gläubige und gar keine Touristen den Weg hierher gefunden. Ich setze mich in der Morgensonne auf die Stufen, die zu dem von Säulengängen
umgebenen Tempelteich hinabführen.
Madurai: Tempelteich und Gopuram
Im Labyrinth der zahllosen Hallen und Gänge empfängt den Besucher der jahrhundertealte Dunst von Kerzen und
Räucherstäbchen, sowie die verwirrende Vielfalt von Rüsselgöttern und melonenbrüstigen Göttergattinnen. Dies alles ist
höchst eindrucksvoll und mutet sehr archaisch an. An der Außenmauer sitzen Schulkinder über ihren Hausaufgaben und ein ganzes Heer von
Schneidern, die maßgeschneiderte Hosen und Hemden anfertigen. In Indien wird zwischen Sakralem und Profanem nicht so streng getrennt:
Einerseits dient ein Tempelbesuch auch zum Plausch und Geschäfteabschließen, andererseits werden die hinduistischen Gottheiten
oft zu Werbezwecken verwendet.
Betender Hindu im Meenakshi-Tempel
Zum Mittagessen bestelle ich mir in einem einfachen Restaurant ein Currygericht mit Reis: Das ganze wird auf einem Bananenblatt
serviert und ist unbeschreiblich scharf. Besteck gibt es keines, gegessen wird nur mit der rechten Hand, denn die linke ist unrein: Mit ihr erledigt
der Inder das, wozu unsereins Toilettenpapier benutzt! Die Versuchung, von dem Wasser, das auf dem Tisch steht, zu trinken, wird immer unwiderstehlicher.
Doch eins ist klar: Wenn ich von diesem Wasser trinke, das der Wirt aus irgendeinem Wasserhahn gezapft hat, bekomme ich alle Krankheiten dieser Welt.
Und so esse ich weiter, schweißgebadet, mit tränenden Augen und brennender Zunge.
Auf der Weiterfahrt im Zug unterhalte ich mich mit zwei Männern, der ältere schwä von der Schönheit
der Berge und legt mir seinen besonderen Insidertip ans Herz: Den Ort Kodaikkanal. Der jüngere, Charles, erklärt sich sofort bereit,
mich dorthin zu begleiten. Er ist gerade 18 Jahre alt und macht eine Ausbildung zum Air-Condition-Techniker. Da er sehr sympathisch ist (und ich beim
besten Willen keinen Betrug wittern kann), ich zudem noch mehr als zwei Monate vor mir habe, willige ich gerne ein.
Bei der nächsten Station steigen wir
aus und laufen zuerst zu Charles' Haus, wo er ein paar Sachen zusammenpackt, und ich seine Eltern kennenlerne. Die Wohnung ist zwar klein und bescheiden,
dafür aber sehr sauber, mit Fernseher, und auch eine Nische mit Götterbildern und Blumen für den täglichen Gottesdienst darf
natürlich nicht fehlen. Kutti, ein Freund, kommt noch mit, und zu dritt steigen wir in den Bus, der uns mit rücksichtslosem Höllentempo
in zweistündiger Fahrt über eine kurvenreiche Strecke nach Kodaikkanal bringt. Der Busfahrer hupt vor jeder Kurve
und hofft, dass Entgegenkommende die Musik nicht so laut aufgedreht haben wie er, so dass sie seine Hupe auch hören; außerdem hängt
neben ihm ein Marienbildnis, welches von geschmackvoll (!) blinkenden Lichterketten umgeben ist. Als wir angekommen sind, ist es deutlich kühler
(der Ort liegt immerhin auf über 2000 m), und ringsum erheben sich mit üppigem Pflanzenwuchs bedeckte Berge. In einem Hotel nehmen wir ein
Dreierzimmer, machen anschließend einen Abendspaziergang und essen Dosa (pfannkuchenähnlicher Fladen mit vielen Zwiebeln im Teig).
Freitag, den 30.7.1999
Paradiesische Landschaft in Kodaikkanal
Während Charles beim Barbier ist, laufe ich ein bisschen herum, und werde spontan von einem Mann, der sich gerade vor seiner
Haustür die Zähne putzt (nicht mit Zahnbürste, sondern mit den Fingern), zu einem Kaffee eingeladen! Er führt mich in sein Haus,
wobei an der Türschwelle die Schuhe ausgezogen werden, wie es die Sitte verlangt. In einem einzigen Raum sind die Schlafstätten, ein Schrank,
die Gebetsnische in der Wand und eine Kochstelle untergebracht, wo seine Frau den Kaffee zubereitet. Die beiden können zwar kaum Englisch, aber mit
Händen und Füßen entwickelt sich eine nette kleine Unterhaltung.
Mit Charles und Kutti mache ich eine Rundfahrt zu den sehenswerten Naturschönheiten: Coakers Walk, Green Valley View,
Pillar Rocks und der blumenreiche Bryant Park. Unseren Aufenthalt beenden wir mit einer Tretbootfahrt auf dem ruhigen See, an dessen Ufer sich
Kodaikkanal erstreckt. Die Rückfahrt ist nicht so abenteuerlich wie die Hinfahrt, da ein anderer Busfahrer am Steuer sitzt, der das Gaspedal
etwas besonnener handhabt. Am Busbahnhof verabschiede ich mich mit ein paar kleinen Geschenken, dann steige ich in den Bus nach Tiruchchirappali
(kurz: Trichy, der Inder kann aber auch die Langversion in weniger als einer Sekunde herunterrattern).
Die hinterste Sitzbank ist für Postsäcke reserviert, die bei jedem „speedbreaker“, der mit 80 km/h
überfahren wird, wild durcheinanderhüpfen. Auf der Fahrt sehe ich pflügende Bauern, Salzbecken und Ziegelbrennereien, alles wird
in Handarbeit hergestellt! Auf halber Strecke liegt die Stadt Dindigul: Während der fünf Minuten Aufenthalt hocken sich nicht
weniger als drei Leute unter meinem Fenster auf den Boden, um zwischen den Bussen ihre Blase zu entleeren! In einem anderen Ort steht ein bunt
geschmückter Prozessionswagen auf der Straße, während im Hintergrund ein großes Feuer in den Himmel lodert.
Vermutlich wird hier gerade eines der im indischen Kalender zahlreichen religiösen Feste gefeiert.