Chinas Westküste: Shanghai
Freitag, den 1.10.1999
Heute sind es auf den Tag genau 50 Jahre her, dass Mao Zedong auf dem Tor des Himmlischen Friedens in Peking
die Volksrepublik China ausgerufen hat: Aus den Lautsprechern in den Waggons tönt fröhliche Marschmusik.
Am frühen Nachmittag komme ich in Hangzhou an, kaufe eine Fahrkarte für die Weiterreise und fahre mit dem Bus
in die Innenstadt. Hier wundere ich mich über das hohe Polizei- und Militäraufgebot (mehr Uniformierte als Zivilisten?)
und über die Unmöglichkeit, ein Hotelzimmer zu bekommen, wenn man (so wie ich) weniger als 150 Mark dafür zahlen will.
Während ich noch die in meinem Buch als „günstig“ empfohlenen Hotels abklappere, beginnt schon das
Jubiläumsfeuerwerk: Eine Stunde lang ist der Himmel über dem Westsee erleuchtet von einem hundertfachen, bunten Lichterregen.
Zehntausende haben sich am Ufer des Sees und in dem angrenzenden Park gelagert, um dem Schauspiel beizuwohnen. Zahllose Imbissbuden und
Chinafähnchenverkäufer sorgen für Jahrmarktstimmung. Frählich stürze ich mich ins Getümmel.
Nachdem sich die Menge nach dem Feuerwerk etwas verlaufen hat,
beginnen die Müllsammler, die liegengebliebenen Plastikflaschen zu aufzulesen, andere kehren den
tonnenweise herumliegenden Müll zusammen. Und ich bemerke, dass anlässlich der Feierlichkeiten auch zahlreiche
andere Auswärtige (Chinesen) bei der Hotelsuche ebenso wenig Erfolg hatten wie ich, und verbringe mit diesen die Nacht im Park.
Samstag, den 2.10.1999
Baochu-Pagode im Morgennebel
Als die Umrisse der Baochu-Pagode, des Wahrzeichens von Hangzhou, in der Dämmerung aus dem Morgennebel
auftauchen, breche ich auf. Auf dem Damm, der die Gushan-Insel mit dem Festland verbindet, kann ich unzählige Chinesen beim
Frühsport beobachten. Jung und Alt ertüchtigt sich hier mit Schattenboxen, Joggen und Kung Fu.
Ich jedoch esse stattdessen lieber ein reichhaltiges Frühstück, um für den Aufstieg zur Höhle des Gelben Drachens
auf dem Geling-Hügel gestärkt zu sein. Diese ist eine Art chinesischer Vergnügungspark:
Es gibt ein Restaurant und Imbissstände, Spielplätze für die Kinder, Musikdarbietungen und Opernaufführungen.
Vor allem erstaunen mich die zahlreichen, abergläubischen Riten, die hier praktiziert werden: Kein Chinese versäumt es,
sich vor dem glückbringenden Drachen ablichten zu lassen. Verlobte Paare schließen als Zeichen ihrer
unzertrennlichen Liebe an einer langen Kette ein Vorhängeschloss an. An einem Brunnen gibt es Jetons zu kaufen: Wer
ins Loch trifft, wird Glück haben, sagt der Aberglaube. „Wer nicht trifft, versuche es noch einmal!“ sagt der
Jetonverkäufer!
Nachdem ich den leider etwas diesigen Blick über den West-See genossen habe, fahre ich mit einem Bus zum
Kloster der Seelenzuflucht (Lingyin Si). Diese heilige Stätte liegt eingebettet in einem bizarren Felsenlabyrinth, in dem sich
die Besuchermassen verlaufen auf der Suche nach den uralten, in den Stein gemeißelten Figuren. Besonders sehenswert ist der
dickbäuchige Buddha Maitreya („Buddha der Zukunft“) aus dem Jahr 1100, der lachend auf seinem Lotusthron sitzt. Das Kloster selbst
ist eines der berühmtesten in China, in der Haupthalle meditiert der knapp 20 m große Buddha Shakyamuni („historischer Buddha“).
Buddha Maitreya („Buddha der Zukunft“)
Obwohl es allmählich zu nieseln beginnt, lasse ich mir den Besuch des Huagang-Parks nicht nehmen.
Diese Gartenanlage zählt zu Recht zu den herrlichsten in ganz China. Und auch der Regen kann mir die Schönheit der
Natur nicht verderben, so dass der nasse Spaziergang zum einmaligen Erlebnis wird. Angesichts des Wetters verbringe ich diese
Nacht nicht im Park am See, sondern im Wartesaal am Bahnhof. Den Rucksack bringe ich zur Gepäckaufbewahrung und mit
meiner Fahrkarte komme ich am Wachpersonal
vorbei in den Warteraum. Der Nachteil ist, dass die Plastiksitzreihen mit Armlehnen ausgestattet sind: Hinlegen kann man sich nur,
wenn man den Bauch einzieht und sich so unter die Lehnen zwängt. Ein Wechseln der Schlafposition ist dann aber nicht mehr möglich!
Sonntag, den 3.10.1999
Der moderne Stadtteil Pudong in Shanghai
Die Zugfahrt nach Shanghai dauert nur knappe drei Stunden, und so komme ich gegen 11 Uhr in der
14-Millionen-Wirtschaftsmetropole an. Sie ist eine der modernsten Städte der gesamten Volksrepublik, denn die Shanghaier
genießen wirtschaftliche Privilegien, von denen das übrige China nur träumen kann. Viele Namen hat diese einmalige
Weltstadt: „Heimliche Hauptstadt Chinas“, „Paris des Ostens“ und „Königin des Orients“.
Von Lockvögeln lasse ich mich in ein nicht allzu teures Hotel bringen, das den Vorteil einer günstigen
Lage hat, dafür aber den Nachteil, dass ich meinen Teller während der Brotzeit im Zimmer mit prachtvollen Exemplaren der
Gattung blatta orientalis (gemeine Küchenschabe, Kakerlak) teilen muss. Am Bahnhof kaufe ich ein Ticket nach Suzhou, der
nahegelegenen „Stadt der Gärten“, wo ich den nächsten Tag verbringen möchte. Dann laufe ich zum Jadebuddha-Tempel,
der, da ich um 16:31 Uhr dort ankomme, natürlich genau um halb fünf schließen muss!
Unverrichteter Dinge fahre ich mit dem Bus in das nördlich der Altstadt liegende Zentrum mit seinen
breiten Einkaufsstraßen und Prachtboulevards. Besonders zu erwähnen ist hier die Uferpromenade, der sogenannte Bund,
den zahlreiche klassizistische Gebäude im Tudor-Stil (zwischen 1890 und 1920) schmücken. Auf der anderen
Seite des Flusses Huangpu Jiang schießt der moderne Stadtteil Pudong aus dem Boden. Die Skyline beherrschend erhebt sich
der Shanghaier Fernsehturm, mit 450 m das höchste Gebäude Asiens. Zu dieser abendlichen Stunde herrscht hier Hochbetrieb:
Kinder mit bunten Luftballons, Jugendliche mit aufblasbaren 500-Kilogramm-Hämmern und Erwachsene mit Stativ und Foto, um
ihre Lieben auf den Film zu bannen. Starke Polizeipräsenz sperrt die Straßen für den Verkehr und versucht, die
Massen in geordnete Bahnen zu lenken.
Der Bund in Shanghai
Montag, den 4.10.1999
Da ich um 7:26 Uhr aufwache, der Zug nach Suzhou aber schon um 7:30 Uhr fährt, lasse ich diesen
Tagesausflug bleiben und kümmere mich stattdessen um ein Ticket für meine Weiterreise. Eineinhalb Stunden stehe
an dem Vorverkaufsschalter für Touristen im Longmen-Hotel an, um zu erfahren, dass für die nächsten Tage alle
Fahrkarten nach Qingdao ausverkauft sind. Am Bahnhof bietet sich ein ähnliches Bild, weshalb ich verärgert den
Kartenkauf auf später verschiebe und mich ein zweites Mal zum Jadebuddha-Tempel aufmache. Dort sind neben der aus einem
einzigen Stück Jade gearbeiteten Buddhastatue im Obergeschoss der Haupthalle noch viele andere kunstvolle Sakralgegenstände
zu bewundern.
Die Haupthalle im Jadebuddha-Tempel
Die folgenden Stunden verbringe ich mit ergebnisloser Sucherei: Alle Geschäftsstellen der Bank of
China sind geschlossen, und in der (geöffneten) Construction Bank of China ist es nicht
möglich, Travellerschecks zu wechseln. Die Tourist-Info schickt mich zu einem Internetcafé, das es nicht gibt,
und zu einem Hafen, wo es aber nur eine lausige Fähre ans andere Ufer gibt und kein Schiff nach Qingdao, geschweige
denn Karten für ein solches. Der im Reiseführer angegebene CTS-Ticketschalter ist nicht zu finden (sofern es ihn
überhaupt gibt), und das CITS-Reisebüro (staatliches Reisebüro) schließt gerade seine Pforten, als ich komme.
Nach einer kurzen Pause im Hotel fahre ich mit dem Bus in den Süden der Stadt, um eine der größten
Hängebrücken der Welt anzuschauen, und laufe dann durch die Altstadt wieder zum Bund. Von diesem Gewaltmarsch erhole
ich mich im Huangpu-Park, der das „Denkmal der Volkshelden“ beherbergt. An der Promenade lasse
ich diesen wunderschönen Tag ausklingen und unterhalte mich mit Jugendlichen, die mit mir ihre (erstaunlich guten)
Englischkenntnisse ausprobieren möchten.
Dienstag, den 5.10.1999
Die Suche nach einer Bank geht weiter, denn mein Geld reicht nicht mehr für eine Fahrkarte,
sofern ich überhaupt eine bekommen kann. Im zweiten Stock eines Nobelhotels werde ich dann schließlich fündig, und kann meine
letzten beiden Reiseschecks in einer kleinen Bankfiliale einwechseln. Als ich am Bahnhof ankomme, ist es inzwischen
Mittagspausenzeit, so dass ich erst noch eine Stunde warten muss, bis ich an einem Spezialschalter für kurzfristige Tickets
einen Softsleeperplatz ergattern kann. Dann mache ich erst einmal einen Mittagsschlaf, bevor ich in die Innenstadt fahre, das Opernhaus
anschaue und noch ein letztes Mal den Bund entlangschlendere. Abends im Hotel bin ich dann so richtig müde, denn den Rückweg
habe ich diesmal zu Fuß zurückgelegt und Shanghai ist ja nun wirklich keine kleine Stadt!
In Shanghai
Mittwoch, den 6.10.1999
Um 10 Uhr sitze ich in einem 1.-Klasse-Abteil (Softsleeper) im Zug nach Qingdao und lasse mir ein nerviges
Kleinkind auf den Geist gehen. Dieser Gesellschaft wegen bin ich recht froh, als ich mich später mit dem 23-jährigen
Jiang Nan unterhalten kann, der mir u. a. die chinesische Aussprache näherzubringen versucht.
Donnerstag, den 7.10.1999
Jiang Nan, mit dem ich mich gestern so gut unterhalten habe, möchte mir die Sehenswürdigkeiten
seiner Heimatstadt zeigen. Heute eine Millionenstadt, war Qingdao, als es den Deutschen 1898 in die Hände fiel, nur ein
kleines Fischerdorf. Hauptsächlich sollte hier ein Flottenstützpunkt eingerichtet werden. Es brauchte nicht lange,
und die Deutschen Kolonianisten hatten ein echtes „Musterländle“ hochgezogen, sauber und ordentlich, und so
sprach es sich unter den Ausländern in China rasch herum, dass „Tsingtau die gesündeste Stadt Asiens und ein
bezaubernder Urlaubsort sei“. Der ist es auch heute noch, und das „Tsingtau“-Bier aus der ehemals deutschen
Brauerei ist das beste und berühmteste in ganz China.
Etikett des berühmten Tsingtau-Bieres
Da es noch recht früh am Morgen ist, können wir am Meer zahlreiche Frühsportler beobachten.
Vorbei am Marinemuseum laufen wir über einen Damm auf die „Klein-Qingdao“ genannte Insel mit dem alten (deutschen)
Leuchtturm. Im Zhongshan-Park verbringen viele Menschen ihre Freizeit, denn in den ausgedehnten Gartenanlagen sind Spielplätze,
Wandelgänge, Restaurants und sogar ein Zoo untergebracht. Anlässlich eines Laternenfestes wurde der Eingang des Parks
mit Hunderten von Lampions geschmückt. Jiang Nan hat per Handyanruf bei einer Freundin, die in einem Luxushotel arbeitet,
ein Zugticket für mich bestellt. Als wir es abholen, sehe ich, wie wichtig in China der „Vitamin B“ ist,
denn am Bahnhof wäre wegen des anstehenden Ferienendes wohl keine Fahrkarte zu bekommen gewesen.
Das Gebäude des ehemaligen deutschen Regierungssitzes ist renoviert worden und erinnert wie kein
anderes an die Kolonialzeit Qingdaos. Lobenswert ist zu
erwähnen, dass hier nicht die Altstadt abgerissen wird, um neue Viertel zu erbauen, sondern, dass im Osten der Stadt ein
neues Zentrum nach den chinesischen städteplanerischen Maßgaben entstanden ist: Moderne Glas- und Wohnsilos, breite
Straßen und großzügig angelegte Plätze bestimmen das Erscheinungsbild. Eine Ausstellung zeigt Modelle von
geplanten Neubauten und alte Stadtpläne mit deutscher Beschriftung. Für Mittag sucht Jiang Nan ein Sichuan-Restaurant aus,
und empfiehlt mir einige Spezialitäten der hiesigen Küche: kalte Kalbsnieren und scharf gewürztes Schweineragout.
Ich lade ihn zum Essen ein, worauf er mir anbietet, doch bei ihm zu Hause zu übernachten.
Im Zhanshan-Tempel können wir beobachten, wie sich die Gläubigen braune Kutten anziehen, und dann im Tempel hintereinander
um den Altar laufen, während sie singen und in die Hände klatschen. Bei einem abschließenden Spaziergang durch
die Altstadt werfen wir auch noch einen Blick in die neoromanische Kirche.
Der alte deutsche Gouverneurspalast in Qingdao
Dann fahren wir mit dem Bus zu Jiang Nans Heim, welches ca. 20 km von der Stadtmitte in der Peripherie liegt.
Die Wohnung ist zwar nicht sehr geräumig, dafür aber mit dem neuesten Stand der Technik ausgestattet.
Jiang Nans Großeltern (die Eltern leben und arbeiten woanders) empfangen mich herzlich, und die Oma hat
sogar schon ein reichhaltiges Abendessen zubereitet. Stolz zeigen sie mir eine Video-CD (die alten VHS-Kassetten benutzt hier niemand),
die sie von der Tochter zur Goldenen Hochzeit bekommen haben. Originale Fotos sind in einen vorgefertigten Standardfilm eingesetzt
worden, um so ein persönliches Geschenk zu kreieren.
Freitag, den 8.10.1999
Am Morgen gibt es frittiertes Frühstücksgebäck mit Milch und Spiegeleier. Dann begleitet
mich Jiang Nan noch auf der Busfahrt bis zum Bahnhof. Herzlich verabschieden wir uns und versprechen, in Briefkontakt zu bleiben.
Im Zug unterhalte ich mich mit einem Englischstudenten über chinesische Politik: Er meint, die Gesellschaft,
das Erziehungswesen, die Wirtschaft, alles wurde in der Vergangenheit revolutioniert, nun sei die Reihe auch an der Politik, da
müsse sich dringend etwas ändern. Wohl, wohl, aber ob das in China so einfach vonstatten gehen kann? Im Anschluss erfahre
ich noch, dass neben Französisch auch Deutsch als zweite Fremdsprache bei chinesischen Studenten sehr beliebt ist. Am Abend bin
ich dann endlich in Beijing, dem Endpunkt meiner langen Reise, auf der ich von Madras bis Peking etwa 21000 km (das entspricht dem
halben Erdumfang!) auf dem Landweg zurückgelegt habe. Eine Unterkunft finde ich in der Jugendherberge im Süden der Riesenstadt.